10

Tante Sarah wartete allein auf dem Bahnsteig des Bahnhofs von Worcester, als Jo und Emma am Tag vor Silvester mit ihrem Gepäck aus dem Zug stiegen. Die Tante trug einen dicken Tweedmantel und hatte ein Wolltuch mit Paisleymuster um ihren grauen Wuschelkopf geschlungen. Nachdem sie Emma umarmt hatte, drückte sie Jo fest die behandschuhte Hand. Dann griff sie nach Emmas größtem Koffer und steuerte raschen Schrittes auf den Parkplatz zu. Jo, die ihr in den dämmrigen verschneiten Nachmittag hinausfolgte, überlegte, ob sie wohl Ähnlichkeit mit Martha Wellbourne hatte. Mit ihrer barschen Art und der tiefen Stimme strahlte Tante Sarah eine Autorität aus, die auf Jo gleichzeitig einschüchternd und beschützend wirkte.

»So, wie ihr beide ausseht, verordne ich euch ein heißes Bad und frühe Bettruhe«, verkündete Tante Sarah und verstaute die Koffer im Kofferraum des alten, blitzblank polierten schwarzen Mercedes. Jos dunkle Augenringe und Emmas eingefallene Wangen waren ihr nicht entgangen. »Gibt man euch nichts zu essen? Ihr macht einen richtiggehend verhungerten Eindruck.«

»Das sagst du jedes Mal, Tante Sarah. Wenn es nach dir ginge, könnte man mich rollen«, meinte Emma lachend, küsste ihre Tante auf die Wange und blinzelte sich die Schneeflocken von den Wimpern. Jo und sie räumten zusammen zitternd vor Kälte das restliche Gepäck ins Auto.

»Nun, es könnte euch nicht schaden, ein paar Kilo zuzunehmen«, entgegnete Sarah streng, klappte den Kofferraum zu und nahm hinter dem Steuer Platz.

Fröhlich stieg Emma neben ihr ein, während Jo sich erleichtert auf die Rückbank setzte, wozu sie zunächst einen Stapel Broschüren des hiesigen Roten Kreuzes beiseite schieben musste. Sie rieb sich die steif gefrorenen Finger; ihre Ohren brannten vor Kälte. Es dauerte nicht lange, bis die Scheiben von ihrer Körperwärme beschlagen waren.

Die Fahrt zu Tante Sarahs Haus dauerte eine halbe Stunde. Jo wischte mit dem Ärmel die Scheibe frei, spähte hinaus und schnappte begeistert nach Luft. Der Wagen glitt durch eine weiße Winterzauberwelt mit gewundenen Straßen und hohen Bäumen, deren Äste sich unter dem gefrorenen Schnee bogen. Der Weg führte sie durch schneebedeckte Alleen, offenes Gelände, über dem Nebel stand, und vorbei an unter wellenförmigen Schneeverwehungen verschwundenen Feldern. Ratternd überquerten sie eine schmale Holzbrücke. Tante Sarah bog scharf nach links ab, wo es hinter der hübschen alten Dorfkirche in die Ortschaft Shesley Walsh ging. An einigen alten Steinhäusern vorbei, fuhren sie eine schmale Straße entlang, wobei die gestutzten Hecken zu beiden Seiten beinahe den Wagen streiften. Zu guter Letzt erreichten sie eine breite, ordentlich gepflegte Auffahrt und hielten vor einem großen, mit Moos bewachsenen Backsteinhaus. Die Lampen hinter den geschlossenen Vorhängen schimmerten einladend.

»Willkommen im ›Krähennest‹, Jo«, verkündete Tante Sarah und betätigte ein wenig zu nachdrücklich die Handbremse.

Jo fand auf Anhieb, dass das schlichte Anwesen Sarahs Persönlichkeit hervorragend widerspiegelte. Im nächsten Moment öffnete sich die weiße Eingangstür mit dem schimmernden Türklopfer aus Messing, und ein hochgewachsener, leicht gebeugter Mann mit schütterem grauem Haar erschien, um sie zu begrüßen.

»Das ist mein Bruder Charles. Er ist zur Fasanjagd hier«, erklärte Sarah und stellte Jo vor, während sie das Gepäck aus dem Wagen holten und durch den frisch gefallenen Schnee wateten. Jo wich einer tief über der Tür hängenden Ranke des wilden Weins aus und wäre beinahe von einem schwarzen Schatten umgerannt worden, der sich ihr entgegenwarf.

»Zurück ins Haus, Winston und Churchill«, befahl Sarah, als ein zweiter schwarzer Schatten herangestürmt kam.

Jo ließ ihre Taschen fallen, ging mit einem breiten Lächeln in die Knie und umarmte die beiden schwarzen Retriever, die erst sie und dann Emma ableckten und dabei wild mit dem Schwanz wedelten. Jo musste an Sam denken, der laut Ninas letztem Brief wohlauf war.

»Ins Haus!«, wiederholte Sarah, worauf die Hunde widerstrebend gehorchten. »Eigentlich haben wir sie als Jagdhunde ausgebildet, aber ich fürchte, meine Nichten und Neffen haben sie bei ihren Besuchen zu sehr verwöhnt«, meinte Sarah mit einem vielsagenden Blick auf Emma.

Drinnen in dem ordentlichen Flur schlugen ihnen der Geruch von Möbelpolitur und köstliche Küchendüfte entgegen. Jo merkte, dass sie sehr hungrig war. Die Wände wurden von Familienporträts und Originaldrucken geziert, die Fasane, Rebhühner und andere heimische Wildtiere darstellten. In den kleinen Nischen an der Treppe und im Korridor, der zu ihren Zimmern führte, erkannte Jo Kostbarkeiten wie französische Keramiken und orientalische Vasen und Krüge, alles liebevoll angeordnet. Im dritten Stock musste sie atemlos innehalten.

»Das ist der sogenannte Kinderflügel. Du wohnst hier und ich gleich nebenan«, verkündete Emma und riss die Tür zu Jos Zimmer auf.

Begeistert trat Jo in das große Zimmer mit der Dachschräge und sah sich um. In einer Ecke stand ein Waschtisch mit einem großen Porzellankrug. Das kleine Körbchen daneben war voller Tannenzapfen, und außerdem gab es noch ein Stück Seife auf einem Porzellanteller. Die weitere Möblierung bestand aus einem Bett und einem hohen Standspiegel. Die Tapete hatte ein Muster aus winzigen rosaroten Rosenknospen. Jo stellte ihr Gepäck ab und lief zum Fenster. Das Fensterbrett war mit Schnee bedeckt. Sie spähte in die Dämmerung hinaus und konnte einen Gemüsegarten und dahinter die grauen Umrisse eines Wäldchens erkennen. Es schneite immer noch.

»Tante Sarah hat eine Schwäche für selbst angebautes Gemüse und würde nie etwas aus dem Laden anrühren«, erklärte Emma und wies auf dunkle, mit Schnee bedeckte Schatten, die wie Soldaten in Reih und Glied standen. »Siehst du das da? Das ist Tante Sarahs preisgekrönter Rosenkohl. Wollen wir wetten, dass es heute zum Abendessen welchen gibt? Das Bad ist am Ende des Flurs. Ich muss aus diesen Sachen raus, sie stinken nach der Zugfahrt. Bis gleich.«

Jo lächelte zufrieden. Bereits nach zwanzig Minuten fühlte sie sich erholt.

Das Abendessen, das in dem formell eingerichteten Esszimmer an einem langen, polierten Mahagonitisch eingenommen wurde, verlief ruhig und in angenehmer Atmosphäre. Tante Sarah erkundigte sich, was Emma in letzter Zeit so getrieben hatte, während Charles Jo alles über das Abhängen von Fasanen erzählte. Anschließend ließen sie sich mit einer Tasse Kaffee vor dem gemütlichen Kamin nieder, in dem die Tannenscheite knisterten, und Jo schlief zu ihrer großen Verlegenheit ein, sodass Emma sie wach rütteln und zu Bett bringen musste.

Beim Aufwachen am nächsten Morgen hörte Jo die Krähen in dem nahe gelegenen Wäldchen krächzen und war sicher, dass sie seit Monaten nicht mehr so gut geschlafen hatte.

»Heute Abend bleibst du aber wach. Wir sind nämlich zum Silvesterball bei den Hiscott-Halls eingeladen«, neckte Emma, die halb angekleidet ins Zimmer gelaufen kam.

Sie hatte ihre Socken und einen dicken Pullover in der Hand und streifte sich gerade zitternd ein Polohemd über den Kopf, das sie in den Bund ihrer schwarzen Samthose steckte.

Gähnend setzte Jo sich auf und zog die Daunendecke hoch bis zum Kinn. »Wer sind die Hiscott-Halls?«, fragte sie.

Sie spürte die Kälte an der Nasenspitze und zögerte, ihr warmes, gemütliches Bett zu verlassen.

»Freunde der Familie. Tante Frances ist mit Tante Sarah befreundet und eigentlich nicht meine richtige Tante. Sie hat aus erster Ehe drei Söhne, die Mitte zwanzig sind und unverschämt gut aussehen. Lelia stammt aus ihrer zweiten Ehe mit Sir William. Mum hat immer vermutet, das er sie wegen des Geldes und sie ihn wegen des Titels geheiratet hat. Tante Frances’ Vater hat Motoren für Rolls-Royce entwickelt und ein Vermögen damit verdient. Die Leute am Ort haben die Nasen gerümpft und sie als Neureiche bezeichnet, bis Tante Frances eine große Summe für die Renovierung der Kirche gespendet hat. Dann waren sie endlich ruhig. Sir William bin ich nie wirklich begegnet«, fuhr Emma, die Stimme gedämpft durch den Pullover, in den sie gerade schlüpfte, fort. »Er ist ein komischer Kauz und ziemlich eigenbrötlerisch und hat sich immer verdrückt, wenn ich mit Tante Sarah bei ihnen zu Besuch war. Ich habe ihn nur einmal kurz gesehen. Da hat er mir vom anderen Ende des Gewächshauses zugewinkt. Dann, als Lelia zwölf war, ist er mit einer Fünfundzwanzigjährigen durchgebrannt. Die arme Tante Frances war am Boden zerstört. Aber ich glaube, dass Lelia das gar nicht weiter aufgefallen ist. Sie ist einfach unbeirrt weiter in ihren Rüschenkleidchen herumgesprungen. Lelia ist vier Jahre älter als ich. Wir haben uns nie richtig verstanden. Sie hat nämlich eine hohe Quengelstimme und wollte mich immer herumkommandieren, als wir noch klein waren. Für mich war sie die größte Idiotin von ganz Worchestershire. Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen, und ich weiß nicht, warum ich überhaupt von ihr rede. Ich wollte dir nur erzählen, wie das hier so ist. Schau, die Sonne versucht durchzukommen.« Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und angelte eine Socke unter dem Bett hervor.

»Klingt, als wäre sie genau mein Fall. Aber solange sie keine Moderedakteurin ist, die mir ins Ohr kreischt, kann sie sein, wie sie will.« Jo grinste und beschloss, sich endlich der Kälte zu stellen. In ihrem Baumwollnachthemd huschte sie über den abgewetzten Teppich, riss das Fenster auf und holte tief Luft. »Ah, es riecht so frisch hier.«

In der Nacht hatte es kräftig geschneit, und überall wimmelte es von den Fußabdrücken winziger Vögel. Der dunstige Sonnenschein ließ den Schnee funkeln wie Diamanten, und die frische Brise sorgte dafür, dass sich Jos Wangen röteten. Fröstelnd zog sie den Kopf zurück und schloss das Fenster.

»Brrr, gibt es in England keine Zentralheizung?«, rief sie aus und rieb sich die Arme.

»Tante Sarah ist eine überzeugte Gegnerin des Heizens. Warum der gesunden Natur ins Handwerk pfuschen? Das härtet ab.« Schmunzelnd zog Emma sich Kniestrümpfe über die Strumpfhose. »Aber heißes Wasser gibt es mehr als genug.«

»Na, klasse.« Jo griff nach ihrem Handtuch und verschwand im Bad.

Zwanzig Minuten später gesellte sie sich, mit einem dicken grünen Pulli über einem weißen Polohemd und einer schwarzen Kordhose bekleidet, zu Emma in den großen Frühstücksraum, der einen Ausblick auf die Felder rund um das Haus bot. Die beiden Mädchen labten sich an dampfendem Haferbrei, gefolgt von Toast mit hausgemachter Orangenmarmelade. Der Ölofen brannte auf so niedriger Stufe, dass er den Raum kaum erwärmte.

Tante Sarah kam herein. Sie trug einen dicken Mantel über Tweedrock und Wollpullover. Ihr Gesicht war ungeschminkt, und ihre Nase von der Kälte gerötet. Das Paisleytuch hielt sie in der Hand.

»Heute Abend um Viertel nach sieben fahren wir zu den Hiscott-Halls, Emma«, verkündete sie und nahm die Autoschlüssel vom Haken neben dem Bücherregal. »Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, Jo. Sie waren ja ziemlich müde. Ich fahre in die Stadt, um Wein und einige Kleinigkeiten für Frances zu besorgen. Warum führst du Jo nicht ein wenig herum, Emma? Im Kühlschrank steht kalter Fasan, und in der Speisekammer sind noch Eier und Suppe. Ein ordentlicher Spaziergang wird euch beiden guttun. Nehmt Winston und Churchill mit, sie brauchen dringend Auslauf.« Nachdem sie sich das Paisleytuch umgebunden hatte, marschierte sie hinaus.

»Das bedeutet, dass wir um Punkt Viertel nach sieben Gewehr bei Fuß in der Vorhalle stehen müssen«, meinte Emma, während der Mercedes davonfuhr. »Ich liebe Tante Sarah, und sie ist eine wundervolle Frau. Doch in diesem Haus hat alles seinen Platz und muss pünktlich auf die Minute vonstattengehen. Sie, nicht ihr Vater, hätte in die Armee eintreten sollen. Komm, ich stelle dich unseren Nachbarn vor. Das ist nur ein paar Kilometer die Straße hinunter.«

Die beiden Mädchen pfiffen nach den Hunden und machten sich, die kurvige Straße entlang, auf den Weg zum Nachbaranwesen. Die Furchen des Weges waren unter dem weichen Schnee gefroren, und immer wieder knirschte Eis unter ihren Füßen.

»Weißt du, ich habe gehofft, dass es so schön sein würde«, seufzte Jo zufrieden.

So entspannt hatte sie sich nicht mehr gefühlt, seit sie aus Australien fortgegangen war. Sie rüttelte an einem Ast und sah zu, wie der Schnee, in der Morgensonne glitzernd, zu Boden rieselte. Sie lief weiter, schüttelte einen zweiten Ast und versuchte, den Schnee mit den Händen aufzufangen.

»Du tust, als hättest du noch nie zuvor Schnee gesehen«, meinte Emma lachend.

»Na und?«, erwiderte Jo und tollte hinter den Hunden her. Emma hob eine Hand voll Schnee auf, rannte Jo nach, warf einen Schneeball nach ihr und traf sie an der Schulter. Churchill fing an zu bellen, während Winston in die entgegengesetzte Richtung davonstob.

»Hey, jetzt ist mir Schnee in den Kragen gefallen«, schimpfte Jo und revanchierte sich umgehend.

Bald entbrannte eine heftige Schneeballschlacht. Die beiden Mädchen sprangen fröhlich hin und her und stolperten dabei immer wieder über die Hunde, die zwischen ihnen im Kreis herumliefen und versuchten, die fliegenden Schneebälle zu fangen. Zweimal wäre Jo beinahe gestürzt, und sie spürte, wie kalter Schnee ihr unter die Jacke drang, worauf sie Emma noch eifriger bewarf. Als die zwei schließlich lachend und atemlos innehielten, waren ihre Wangen gerötet, und ihre Augen leuchteten.

»Es ist so schön, einfach nur man selbst sein zu dürfen«, juchzte Jo, schleuderte eine Hand voll Schnee in die Luft und fischte Schneebröckchen aus ihrem Kragen. »Ach, Emma, danke, dass du mich eingeladen hast.«

»Ich finde es schön, eine Freundin zu haben«, erwiderte Emma, plötzlich schüchtern. »Weil Mummy und Daddy immer in der Weltgeschichte herumreisen, war ich meistens auf mich allein angewiesen. Tante Sarah ist zwar ein Schatz, aber es ist trotzdem nicht dasselbe … An Weihnachten habe ich die beiden wirklich vermisst.«

Sie warf Churchill einen Schneeball zu.

»Heute Abend wird es sicher lustig«, wechselte sie, vergnügt wie immer, das Thema. Aus ihren Manteltaschen förderte sie einige trockene Kekse zutage, die sie an die hechelnden Hunde verfütterte.

Jo betrachtete ihre Freundin und dachte nicht zum ersten Mal, dass sie selbst von ihnen beiden das einfachere Leben hatte. »Du musst mir noch einmal erklären, wer heute Abend alles kommt, damit ich mir wenigstens ein paar Namen merke«, sagte sie, während Winston sich in einen jungfräulichen Schneehaufen fallen ließ.

Die große Standuhr schlug Viertel nach sieben, und Jo zog den langen Mantel über das schwarze Kleid, das sie zu Jennys Party getragen hatte. Sie sah eher aus wie neunzehn als wie siebzehn, als sie neben Emma auf dem Rücksitz des Mercedes Platz nahm, die ein Kleid aus grünem Knautschsamt trug. Nachdem Tante Sarah beifällig genickt und Charles eine aufmunternde Bemerkung gemacht hatte, brachen die vier auf nach Shelsey Manor, zum wunderschönen alten Landsitz der Hiscott-Halls. Wegen Sarahs strenger Einstellung zu Pünktlichkeit und gutem Betragen waren sie unter den ersten Gästen.

Jo wurde offiziell vorgestellt, bekam ein Glas Orangensaft in die Hand gedrückt und wurde zu ihrer Verlegenheit dazu verdonnert, mit Frances Hiscott-Halls altem, sehr schwerhörigen Vater und einer albernen kleinen Frau, die ein viel zu tief ausgeschnittenes geblümtes Kleid trug, Konversation zu betreiben. Letztere erklärte Jo ausführlich, sie sei bei einem Anwalt am Ort tätig, der den Betreiber des Lokalsenders beriet, welcher sicher auch zu der Feier erscheinen werde.

Frances, die die beiden Mädchen absichtlich getrennt hatte, entführte Emma ans gegenüberliegende Ende des Raums zu einer anderen Gruppe von Gästen, während Sarah das Buffet in Augenschein nahm.

Obwohl Frances zu Anfang als Neureiche verspottet worden war, zeugte das Haus von ihrem guten Geschmack und ihrer Liebe zu schönen Dingen. Die große Eingangshalle war mit Antiquitäten und eleganten Kunstobjekten ausgestattet, und die schweren roten Samtvorhänge im geräumigen Wohnzimmer passten ausgezeichnet zu dem dicken Perserteppich.

Für Jos Gefühl war der Raum riesig und viel zu ruhig. Ihre eigene Stimme klang ihr laut in den Ohren, während sie sich bemühte, die schleppende Konversation in Gang zu halten. Sie zermarterte sich gerade das Hirn auf der Suche nach einem Gesprächsthema, da fiel ihr Blick auf die prachtvolle, mit Gold und Türkisen verzierte antike französische Uhr auf dem mächtigen marmornen Kaminsims. Flankiert von zwei kunstvoll gestalteten Kaminböcken in Form fliegender Adler, erwärmte das lodernde Feuer des Kamins den Raum und tauchte die geschwärzten Metallteile in einen rötlichen Schein. Jo wünschte sich sehnlich Mitternacht herbei, während nach und nach die anderen Gäste eintrafen.

Gerade erklärte sie zum dritten Mal, dass sie mit zwei Hunden und nicht mit dem ehemaligen britischen Premierminister spazieren gewesen sei, als es in der Vorhalle laut wurde, und alle Augen sich zur Tür wandten. Ein leicht übergewichtiger Mann von Mitte vierzig, mit gerötetem Gesicht, kam herein, laut lachend über einen Scherz von Frances, schritt über den Perserteppich und strich sich die Schneeflocken aus dem dichten hellbraunen Haar. Er wurde von einer elegant gekleideten, etwa zehn Jahre jüngeren Frau begleitet. Sie schienen den leeren Platz im Raum zu füllen. Jo war sicher, die beiden schon einmal gesehen zu haben, konnte sie jedoch nicht einordnen.

»Und das ist unsere australische Besucherin Joanna Kingsford. Sie wohnt bei Sarah und Emma im ›Krähennest‹«, erklärte Frances und schob die beiden zu Jo hinüber. Ihr streng geschnittenes Kostüm raschelte bei jeder Bewegung. »Jo und Emma sind gerade im Begriff, erfolgreiche Fotomodelle zu werden. Sie wissen doch, dass das schon immer Emmas sehnlichster Berufswunsch war.«

Dankbar schüttelte Jo den Neuankömmlingen die Hand.

»Jo, meine Liebe, das sind Mr und Mrs Compton, die Besitzer eines erfolgreichen Rennstalls nicht weit von hier«, fuhr Frances fort. »Eins sage ich Ihnen, Guy, Ihre Pferde führen ein besseres Leben als die meisten von uns. Sally, kommen Sie, ich möchte Sie mit einer Freundin von mir bekannt machen.« Mit diesen Worten zog sie Mrs Compton weg.

Plötzlich wusste Jo, warum ihr der Mann so bekannt vorgekommen war. Ihr Puls begann zu rasen, und sie errötete heftig. Die Vorstellung war überflüssig gewesen. Sie hatte das Gesicht dieses Mannes oft genug gesehen. Ständig war zu Hause sein Name gefallen. Sie stand tatsächlich vor Guy Compton, dem führenden britischen Pferdetrainer, Gewinner dreier Epsom Derbys und einiger Rennen in Ascot. Beim letztjährigen »Prix de l’Arc de Triomphe« in Longchamps bei Paris war sein Pferd Zweiter geworden. Außerdem gehörte ihm das berühmte Gestüt Stockenham Park – die »dämlichen alten Ställe« am Ende der Straße, über die Emma Witze gerissen hatte. Sprachlos zermarterte Jo sich das Hirn nach einer intelligenten Bemerkung.

»Kingsford? Sie sind nicht etwa mit dem australischen Trainer Charles Kingsford verwandt?«, fragte Guy.

Trotz seiner leutseligen und freundlichen Art hatte er einen durchdringenden Blick.

»Ich bin seine Tochter«, stammelte Jo.

»Was? Sie sind Charlies kleines Mädchen? Das darf doch nicht wahr sein. Wie geht es dem alten Schwerenöter … ich meine, Ihrem Vater? Der versteht etwas von seinem Geschäft. Sie müssen uns unbedingt besuchen und mir ein paar seiner Geheimnisse verraten«, witzelte er. »Wir wohnen nicht weit von hier.«

Jos Miene hellte sich auf, ihre Verlegenheit ließ nach, und sie erzählte von ihrem Vater und der Kingsford Lodge. Wie immer hatte das Zusammensein mit Menschen aus der Welt des Pferderennsports eine anregende Wirkung auf sie. Während sie und Guy Compton Anekdoten austauschten, bemerkten sie gar nicht, wie sich der Raum füllte und es immer lauter wurde. Frances kam weiter ihrer Gastgeberpflicht nach, alle Gäste miteinander bekannt zu machen.

»Es ist sehr nett, dass Sie beide sich so gut verstehen, aber ich muss Joanna leider entführen«, unterbrach Frances schließlich und lächelte Guy zu.

Dann nahm sie Jo fest am Ellenbogen und schob sie zu einer Gruppe junger Steuerberater aus London hinüber. Höflich beteiligte sich Jo an ihrem nichtssagenden Geplauder. Die Begleiterinnen der jungen Männer waren ganz besonders blasiert. Jo langweilte sich entsetzlich, insbesondere, als man unweigerlich auf ihre Modelkarriere und ihre Fotos in den Modezeitschriften zu sprechen kam. Sehnsüchtig sah sie sich nach Guy Compton um. Gerade wollte sie ihn fragen, wann ihm ihr Besuch in Stockenham Park genehm wäre, als Frances sie weggezogen hatte.

Inzwischen drängten sich die Gäste im Raum, und der Geräuschpegel war so hoch, dass man fast schreien musste, um sich verständlich zu machen. In der Hoffnung auf eine weitere Gelegenheit zu einem Gespräch mit Guy blickte sich Jo nach Emma um, die gerade in eine Unterhaltung mit einem dunkelhaarigen Mann vertieft war. Nach der Beschreibung der albernen Dame zu urteilen, musste es sich um den Betreiber des Lokalsenders handeln.

Jo entschuldigte sich bei den Steuerberatern und schlängelte sich zu dem Tisch vor der Terrassentür durch, um sich etwas zu trinken zu holen. Sie schnitt ihrem Spiegelbild in der silbernen Bowleschale eine Grimasse, schöpfte sich eine Kelle voll Punsch und wollte sie gerade in ihr Glas gießen, als sie einen heftigen Stoß erhielt. Ein junger Mann, der fünf leere Gläser über dem Kopf balancierte und dabei seinen Freunden durch den Raum etwas zurief, hatte sie angerempelt.

»Können Sie nicht aufpassen?«, rief Jo ärgerlich, denn sie hatte sich die Hüfte am Tisch gestoßen. Doch ihre Stimme ging in dem Lärm unter. Die Schöpfkelle fiel ihr aus der Hand, und die hellrote Flüssigkeit ergoss sich über einige Dutzend umgefallener Gläser.

»Mein Gott, ist das voll hier! Moment, ich helfe Ihnen«, sagte der junge Mann und griff nach der Schöpfkelle.

Wütend nahm sich Jo eine Papierserviette und hielt sich die schmerzende Hüfte.

»Hiscott-Punsch, wundervoll! Genau das Richtige an einem kalten Wintertag. Es ist nämlich ziemlich kalt draußen«, fuhr der junge Mann fort.

Er drehte sich zu Jo um und reichte ihr ein volles Glas, in dem eine Apfelscheibe schwamm. Plötzlich hielt er inne, und seine Miene wurde ernst.

»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich habe Ihnen doch nicht etwa wehgetan?«, erkundigte er sich besorgt.

»Schon gut, alles in Ordnung«, erwiderte Jo, rieb sich noch einmal die Hüfte und nahm das angebotene Glas entgegen. »Auf Ihr Wohl.«

Sie fragte sich, wie viel Punsch der junge Mann intus hatte. Sie sah ihn an, und ihr Herz machte einen Satz, denn sie blickte in ein Paar verführerische meergrüne Augen, in denen der Schalk blitzte. Der Fremde war einige Jahre älter als ihr Bruder Bertie, kräftig und sonnengebräunt und hatte schimmerndes dunkelbraunes Haar. Überhaupt war er der attraktivste und aufregendste Mann, dem Jo je über den Weg gelaufen war. Zum zweiten Mal an diesem Abend fehlten ihr die Worte. Sie errötete heftig und stürzte das halbe Glas Punsch auf einmal hinunter.

»Keine sehr gute Methode, sich mit jemandem bekannt zu machen, aber bei Frances’ Einladungen ist es immer schrecklich voll. Ich weiß nicht, wo sie die vielen Leute hernimmt«, stammelte der junge Mann und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

Er hielt Jo die Hand hin.

»Ich bin übrigens Simon Gordon, und Sie? Ich kenne Sie doch«, fügte er nachdenklich hinzu. »Aber woher? Nein, sagen Sie nichts.«

Er deutete mit dem Finger auf Jo.

»Aus der Vogue … der aktuellen Ausgabe. Natürlich. Sie wohnen bei Emma im ›Krähennest‹. Mein Gott, Sie sind in Wirklichkeit genauso schön wie auf den Fotos.«

Offenbar war ihm seine eigene Unverblümtheit peinlich, denn er errötete.

»Tut mir leid, das war schrecklich unhöflich. Ich rede wohl ziemlichen Unsinn.«

Inzwischen strömten die Gäste zum Buffet nebenan, und es war nicht mehr so laut. Sie konnten sich unterhalten.

»Der Punsch ist gut«, meinte Jo, die endlich die Sprache wiedergefunden hatte.

Vorsichtig nahm sie noch einen Schluck. Schon erwartete sie, dass sich das Gespräch den unvermeidlichen Themen Modelkarriere und Modezeitschriften zuwenden würde.

»Was machen Sie beruflich?«, fragte sie höflich und wünschte sich, er würde sie als Mensch sehen und nicht nur als Foto aus einer Zeitschrift.

»Ich arbeite in einer Londoner Bank. Wie machen Sie das eigentlich, dass Sie auf diesen tollen Strandfotos keine Gänsehaut haben, obwohl sie mitten im Winter aufgenommen worden sind?«

Mit dieser Frage hatte Jo ganz und gar nicht gerechnet. Kurz hielt sie inne und musterte ihn über den Rand ihres Glases hinweg. Dann fing sie an zu kichern.

»Man macht sich warme Gedanken. Damit müssten die Briten sich eigentlich auskennen, wenn man das Haus von Emmas Tante als Maßstab nehmen kann. Sie ist wirklich reizend, aber …« Ihre Stimme erstarb, und der Atem stockte ihr beim Blick in diese meergrünen Augen. Ein Feuerstoß durchzuckte ihren Körper. Für eine kleine Ewigkeit stand sie so da, überzeugt, dass er das wilde Klopfen ihres Herzens hören konnte. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Schließlich wandte Jo sich ab und spielte am Stiel ihres Glases herum. Ihre Handflächen waren schweißnass, ihre Beine zitterten. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

»Nun, Sarahs Vorstellungen von Wärme unterscheiden sich nicht unwesentlich von denen der übrigen Menschheit«, stieß Simon schließlich atemlos hervor, ohne den Blick von Jos Gesicht zu wenden. Rasch leerte er sein Glas und griff nach Jos. »Ich glaube, ich brauche noch einen Schluck Hiscott-Punsch.«

Er füllte hastig beide Gläser nach und gab eines davon Jo.

»Wie lange bleiben Sie?«

»Nur über Silvester. Danach müssen wir zurück nach Paris«, erwiderte Jo ebenso atemlos und wich seinem Blick aus.

Der Brandy im Punsch breitete sich in ihren Adern aus wie ein Lauffeuer. Sie sah auf seine kräftigen Hände und bemerkte, wie er beim Trinken eine Augenbraue hochzog. Noch nie war sie einem so aufregenden Mann begegnet. Bei keinem der braungebrannten, schönen Jünglinge, denen sie im Lauf des vergangenen Jahres begegnet war, hatte sie weiche Knie bekommen. Er war der Erste.

»Eigentlich wollte ich vor meiner Abreise Stockenham Park einen Besuch abstatten«, meinte sie stattdessen. »Außerdem fällt Ihnen gleich der Manschettenknopf heraus.«

»Oh«, rief Simon und warf einen raschen Blick auf seine Manschette, die unter dem Sakko hervorblitzte. Der Manschettenknopf hing lose herab. »Wie peinlich. Offenbar habe ich das falsche Paar erwischt. Diese sind offensichtlich zu klein. Ich war wie immer zu spät dran.«

Er verdrehte die Augen.

»Keine Angst, Sie brauchen sich nicht bei mir zu entschuldigen«, erwiderte Jo, froh, ein unverfängliches Thema gefunden zu haben. »Warten Sie, ich nehme ihn ab, damit Sie ihn nicht ganz verlieren. Ist der andere auch locker?«

Sie entfernte die Manschettenknöpfe und reichte sie ihm. Als ihre Finger sich berührten, durchfuhr ein Schauer ihren Körper. Jo musste ein Aufstöhnen unterdrücken.

»Danke«, sagte Simon rasch und steckte die Manschettenknöpfe in die Jackentasche. »Schwören Sie, es niemandem zu verraten«, flehte er und schob die Manschetten wieder unter die Jackenärmel. »Schließlich gehört es sich nicht, halb angezogen zu einer Einladung bei Frances zu erscheinen«, meinte er grinsend, und in seinen Augen funkelte es spitzbübisch.

Jo lächelte ihm verschwörerisch zu. Der Duft seines Rasierwassers stieg ihr in die Nase und beschleunigte ihren Pulsschlag.

»Nur, wenn Sie niemandem sagen, dass ich literweise Hiscott-Punsch getrunken habe.«

»Ich werde schweigen wie ein Grab«, flüsterte er ihr ins Ohr.

»Ach, da bist du ja, Si. Ich habe dich überall gesucht«, erklang plötzlich eine schrille Frauenstimme.

Wie zwei schuldbewusste Kinder fuhren Jo und Simon auseinander. Jo sah sich um und stand vor einer hochgewachsenen, einer Göttin gleichenden Gestalt in einem metallisch schimmernden grauen Kleid, das ihre überaus schlanke Figur umschmeichelte. Die Fremde schwebte auf sie zu, wobei der kurze Rock den Blick auf lange, wohlgeformte Beine freigab. In diesem Kleid war Jo vor Kurzem für Harper’s Bazaar fotografiert worden.

Jo schätzte die Trägerin auf Anfang zwanzig. Ein wahrer Heiligenschein aus weichem blondem Haar umrahmte ein zartes herzförmiges Gesicht mit einem klassisch englischen, rosigen Teint und makellos geformten roten Lippen. Jo konnte nicht anders, sie musste die ausgezeichnete Haltung und die Schönheit der jungen Frau bewundern. Alle Augen folgten ihr, als sie auf Simon zuging und ihn am Arm nahm, ohne Jo eines Blickes zu würdigen.

»Na, willst du mir nicht verraten, wo du gesteckt hast, Liebling? Ich habe mir solche Sorgen gemacht«, schmollte sie und klammerte sich an ihn. Ihre kühlen grauen Augen waren stark geschminkt, und sie hüllte die Umstehenden in eine Wolke von Chanel No. 5.

»Auf der A40 war starker Nebel. Ich dachte schon, ich würde gar nicht mehr ankommen, aber hinter Cheltenham wurde es besser«, erklärte Simon leicht verlegen.

Sanft schob er die Hand der jungen Frau weg und tätschelte sie wie die Pfote eines unartigen Welpen.

»Das ist Jo Kingsford, eine Freundin von Emma und auch Fotomodell. Deine Mutter hat von ihr erzählt. Sie ist drüben im ›Krähennest‹ zu Besuch.« Sein Lächeln erhellte den ganzen Raum, als er den Arm ausbreitete, um Jo in das Gespräch einzubeziehen.

Die Göttin schenkte Jo ein süßliches Lächeln.

»Fotomodelle haben mich schon immer fasziniert, aber finden Sie es nicht ein wenig gewöhnlich, Ihr Aussehen für Geld zu verkaufen? Das ist doch eigentlich nur einen kleinen Schritt von Prostitution entfernt«, merkte sie lässig an.

»Wie bitte?«, stieß Jo empört hervor. Ihre Augen funkelten empört über diesen Überraschungsangriff.

Sofort schlug die junge Frau die Hand vor den Mund.

»Hoppla, habe ich da etwas Falsches gesagt?«, flötete sie und sah Simon Hilfe suchend an. »Ach, Sie sind auch Fotomodell … Das tut mir aber leid, ich wollte nicht unhöflich sein. Natürlich habe ich Sie nicht persönlich gemeint. Genau genommen bewundere ich Sie sogar. Sie müssen sicher sehr diszipliniert sein, um sich nur von Stangensellerie und Salat zu ernähren.«

Jo, die von der Begegnung mit Simon noch immer wackelige Knie hatte, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.

»Jo sieht doch wohl nicht so aus, als würde sie nur von Salatblättern leben«, wandte Simon rasch mit einem Auflachen ein. Er klang ein wenig gereizt. »Ich besorge uns ein Glas Champagner.«

»Ach, du meine Güte, ständig trete ich ins Fettnäpfchen«, kicherte das Mädchen und lehnte sich verführerisch in Simons Richtung. Dieser machte sich jedoch auf die Suche nach einem Kellner. »Das muss am Punsch liegen. Ich weiß gar nicht, was sie da hineinschütten. Simon meint, für mich müsste es Fettnäpfchen in Übergröße geben.« Sie senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern und holte zum nächsten Seitenhieb aus. »Aber eines müssen Sie mir verraten: Werden die Fotos alle retuschiert, damit Sie darauf schlanker aussehen?«

»Nein«, erwiderte Jo wütend und rang um Selbstbeherrschung. Die junge Frau wurde ihr mit jedem Wort unsympathischer, und sie hätte ihr am liebsten das selbstzufriedene Lächeln aus dem perfekt geschminkten Gesicht geprügelt.

»Ihr kleines Schwarzes ist ein Traum. Ich wette, Sie gehen auf viele Prominentenpartys. Das ist sicher sehr aufregend.« Mit einem entwaffnenden Lächeln schleuderte die junge Frau ihre Lockenmähne zurück und betastete den großen Rubin an ihrer mit Diamanten und Perlen besetzten Halskette. »Wie lange bleiben Sie denn?«

»Bis zum vierzehnten Januar«, antwortete Jo und fragte sich, ob sie die Fremde einfach nur missverstand. Sie hatte im vergangenen halben Jahr ausreichend Erfahrung mit zickigen Geschlechtsgenossinnen gesammelt. Doch keine andere benahm sich gleichzeitig so faszinierend und abstoßend wie dieses Exemplar. Gebannt beobachtete Jo, wie die Fremde an ihrer Halskette spielte, den Blick durch den Raum schweifen ließ und dabei weiterplauderte.

»Hat Jo dir erzählt, dass Sarah so sparsam heizt wie eh und je?«, sagte Simon, der mit den Gläsern zurückkehrte und offenbar nichts von dem Kampf ahnte, der da vor seinen Augen ausgetragen wurde.

Mit einem Kopfschütteln nahm die junge Frau ihr Glas entgegen, blickte durch dichte Wimpern bewundernd zu Simon auf und streichelte seine Wange.

»Simon, du böser Junge, du hast mich noch immer nicht richtig vorgestellt«, meinte sie mit einem hinterhältigen Lächeln.

»Ach, wirklich nicht? Verzeihung, das tut mir schrecklich leid, Jo«, rief Simon und strahlte Jo an. Ihr Herz machte wieder einen Sprung. »Wo habe ich nur meine Manieren? Darf ich dich mit meiner Verlobten Lelia Hiscott-Hall bekannt machen?«

»Nächste Woche wird es offiziell im Tatler bekannt gegeben«, verkündete Lelia triumphierend.

Jo konnte nicht verhindern, dass ihr der Mund offen stehen blieb. Verdattert sah sie zwischen Lelia und Simon hin und her. Die Enttäuschung war ihr anzusehen.

»Herzlichen Glückwunsch«, erwiderte sie mit trockenen Lippen. Im nächsten Moment erschien zu Jos großer Erleichterung Emma, einen großen Teller mit Hühnchenbrust in Blätterteig in der Hand und den Fernsehchef im Schlepptau.

»Martin! Was für eine schöne Überraschung«, rief Lelia, wirbelte herum, fiel dem Fernsehchef um den Hals und küsste ihn auf beide Wangen.

»Immer noch ganz die Alte, was, Tiddles?«, antwortete Martin in breitem Yorkshire-Akzent. Seine Miene wurde weicher, als er Lelia auf den Scheitel küsste und sich sanft aus ihren Klauen befreite. »Du bist ein Glückspilz, Simon.«

Ohne auf Lelia zu achten, machte Emma Jo und Martin miteinander bekannt.

»Der arme Martin. Ein Mann mit gebrochenem Herzen«, flötete Lelia kokett. Nach einem vielsagenden Blick auf Emma fuhr sie mit lauter Stimme fort: »Und wie läuft es in Mailand? Was machen denn all die hübschen, glutäugigen Italiener? Wie heißt deine neueste Eroberung? Nico, Mario? Sarah hat mir von dem wundervollen Carlos erzählt.«

»Sei doch still, Lelia. Lass das Herumgezicke«, zischte Emma.

»Ach, wer wird denn gleich so wütend werden«, stichelte Lelia.

»Ich glaube, wir sollten nach den anderen Gästen sehen, Lelia«, sagte Simon mit Nachdruck und zog seine Verlobte von der Gruppe weg. Lelia strich verführerisch über Simons Arm und drehte sich mit triumphierender Miene zu Emma und Jo um.

»Komm, Simon-Schatz, lass die beiden kleinen Mädchen mit dem berühmten Fernsehmann plaudern. Wir gehen die anderen suchen.« Sie zog Simons Hand fest um ihre Taille. »Hoffentlich überstehst du das, Martin«, ließ sie zum Abschied den letzten Seitenhieb los und nahm mit klimpernden Augenlidern seinen Handkuss entgegen.

Kurz trafen sich Simon und Jos Blicke, und sie hätte schwören können, dass er sie um Verzeihung bitten wollte. Um zu verbergen, wie sehr sie Lelias Äußerungen kränkten und ärgerten, wandte Jo sich ab.

»Die reizende Lelia, wie sie leibt und lebt«, flüsterte Emma. »Zum Glück hat sie in den letzten fünf Jahren ein Vermögen für Sprechunterricht ausgegeben, sonst müssten wir uns auch noch mit ihrem Quengelstimmchen herumquälen. Komm, iss etwas.«

Rasch hielt sie Jo einen vollen Teller hin, fest überzeugt, dass ihre Freundin kurz vor einem Wutanfall stand. Jo seufzte tief.

»Vermutlich habe ich mich gerade schrecklich blamiert«, meinte sie und griff nach einem Blätterteigpastetchen. »Warum hat er mir nicht gleich gesagt, dass er verlobt ist. Wie peinlich!«

»Denk nicht mehr daran, sie wird es auch nicht tun«, meinte Emma und tätschelte ihrer Freundin aufmunternd den Arm. Dann bot sie Martin ebenfalls ein Pastetchen an.

Jo biss in den lockeren Blätterteig und beobachtete mit widerstrebender Bewunderung, wie Lelia majestätisch durch den Raum rauschte, einem Gast zulächelte, einem anderen die Hand schüttelte und einem dritten im Vorbeigehen einen Scherz zurief. Die Menge teilte sich, als sie, Simon an der Hand, hin und her schlenderte. Am meisten erstaunte Jo, wie glücklich und zufrieden die Menschen wirkten, wenn die gertenschlanke Schönheit mit der gekünstelten Art das Wort an sie richtete. Doch im ersten Moment hatte selbst Jo sie sympathisch gefunden.

»Sie ist traumhaft schön, mit dem attraktivsten Mann im Raum verlobt, und nach dem heutigen Abend werde ich die beiden wohl nie wieder sehen. Warum fühle ich mich dann, als hätte ich gerade eine Begegnung mit einer Klapperschlange gehabt?«, seufzte Jo. Nach dem fünften Glas Champagner war ihre Zunge bereits ein wenig schwer. Emma war so mit Martin beschäftigt, dass sie kein Wort hörte. Jo beschloss, sich sinnlos zu betrinken.

Am nächsten Morgen war es noch dunkel, als Jo von Emma wach gerüttelt wurde. Sie setzte sich langsam auf und hielt sich den heftig pochenden Schädel, in dem Tausende kleiner Hämmerchen zu wüten schienen.

»Habe ich das neue Jahr eigentlich bei Bewusstsein erlebt?«, fragte sie und öffnete vorsichtig ein Auge.

»Hast du. Du hast gesungen und getanzt. Und abgesehen davon, dass du unbedingt mit Simon Charleston tanzen wolltest, aber dann plötzlich hinausgelaufen bist, um in Tante Frances’ Toilette zu kotzen, warst du ausgesprochen charmant. Wie machst du das bloß, Jo?«

»Keine Ahnung«, stöhnte Jo und ließ sich mit geschlossenen Augen zurück in die Kissen sinken. »Ich war noch nie betrunken. Und wenn das dabei herauskommt, erspare ich mir das in Zukunft.«

»Sehr gut. Und jetzt steh auf«, drängte Emma gnadenlos. »In vierzig Minuten treffen wir die Jagdgesellschaft bei den Hiscott-Halls.«

»Ich glaube, ich muss sterben«, jammerte Jo, ohne sich zu rühren.

»Nein, musst du nicht. Und selbst wenn, du kommst trotzdem mit. Tante Sarah lehnt die Jagd zwar kategorisch ab«, erklärte Emma. »Doch einmal im Jahr lässt sie sich erweichen, damit sie ihre hausgemachte Suppe für zehn Pfund pro Teller verkaufen kann. Bei diesen arktischen Temperaturen haben immer alle zugegriffen. Sie und Frances sind vor etwa sechs Jahren auf die Idee gekommen, und inzwischen ist die Hiscott-Jagd so eine Art Tradition geworden. Sarah bekommt dabei stets ein ordentliches Sümmchen für das Rote Kreuz zusammen.«

»Reitest du mit, Emma?«, fragte Jo, kletterte vorsichtig aus dem Bett und versuchte, nicht auf ihren pochenden Schädel zu achten.

»Ich weiß noch nicht. Ich habe mich mit Martin in Shelsey Manor verabredet. Vielleicht helfen wir nur beim Suppeverteilen und unternehmen dann allein einen Ausritt«, meinte sie und grinste Jo verschwörerisch zu.

»Sei vorsichtig«, mahnte Jo.

»Du auch. Ich habe die Blicke gesehen, die Lelia dir gestern zugeworfen hat. Es ist nicht ratsam, sie sich zur Feindin zu machen, und es hat ihr gar nicht gefallen, dass du mit ihrem geliebten Si getanzt hast.«

»Sei nicht albern, Emma. Die beiden sind verlobt. Bestimmt interessiert er sich nicht für ein albernes Schulmädchen, das auf der Silvesterfeier zu viel Punsch erwischt hat.«

»Den Eindruck hatte ich nicht«, erwiderte Emma.

»Du hast eben eine blühende Fantasie«, entgegnete Jo und schleppte sich ins Bad.

Dank einiger Tassen schwarzen Kaffees, ein paar Schmerztabletten und der eisigen Luft besserten sich Jos Beschwerden ein wenig. Sie bestand darauf, Tante Sarah zehn Pfund für die Suppe zu geben, die sie dann doch verschmähte, und beobachtete, immer noch schlaftrunken, wie sich die Reiter in der Dämmerung auf dem Vorplatz versammelten.

Die Hunde begannen aufgeregt zu bellen, und die Hufe der Pferde klapperten auf dem Kopfsteinpflaster. Sofort fühlte sich Jo ein bisschen besser. Wie Tante Sarah war Jo eigentlich eine Gegnerin der Jagd, doch als ihr ein Stallbursche ein Pferd brachte, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen. Vorsichtig stieg sie auf und band den Kinnriemen ihrer Reitkappe fest. Ihr schwummeriges Gefühl wurde von Hochstimmung abgelöst, während sie ihr Pferd tätschelte und es antrieb. Als die Hörner die Jagd anbliesen, zuckte sie leicht zusammen.

Kurz darauf preschte sie über die schneebedeckten Felder, auf denen die vorneweg eilenden braunweißen Hunde aussahen wie winzige Pünktchen. Sie sprang über Zäune und Gräben und genoss den Ritt. Ihre Wangen prickelten von der Kälte, und sie fühlte sich glücklich. Beim Sprung über einen Graben bemerkte sie einen Sturz von Simon. Sie wollte anhalten, um sich zu vergewissern, dass er nicht verletzt war. Doch er stieg rasch wieder auf und galoppierte in den dunstigen Morgen hinein. Zu Jos Erleichterung fehlte von Lelia jede Spur. Im nächsten Moment schloss Sally Compton zu ihr auf. Die beiden Frauen ritten gemächlich nebeneinander her, plauderten über Pferde, Modenschauen und die neuesten auf der Rennbahn bewunderten Kreationen und ließen die anderen an sich vorbeipreschen. Jo erfreute sich an der idyllischen Landschaft und genoss es, das Pferd unter sich zu spüren. Bis zum Mittagessen hatten sich ihre Kopfschmerzen gelegt, und sie hatte einen Riesenhunger. Wegen des frühen Einbruchs der Dunkelheit im Winter war der Nachmittag rasch vorüber. Jo beschloss, auf die Abschlussfeierlichkeiten in Shelsey Manor zu verzichten, und half Tante Sarah, die großen Suppentöpfe und Schöpfkellen ins ›Krähennest‹ zurückzubringen. Als sie in die Einfahrt einbogen, kam Emma ihnen entgegengelaufen und schwenkte aufgeregt ein Stück Papier.

»Guy Comptons Stallmeister hat angerufen und dich für morgen nach Stockenham Park eingeladen. Er bittet dich, zurückzurufen, sobald du zu Hause bist. Sein Name ist Kurt Stoltz. Da hast du seine Nummer. Ich kümmere mich um Tante Sarahs Töpfe. Geh und ruf ihn gleich an.«

Mit einem Freudenschrei riss Jo Emma den Zettel aus der Hand und stürmte ins Haus, nicht ohne vorher zu versprechen, sich anschließend am Töpfeschleppen zu beteiligen.

»Also?«, fragte Emma, als Jo übers ganze Gesicht grinsend in die Küche kam.

»Um acht Uhr morgen Früh lässt er mich mit dem Wagen abholen. Ich kann es kaum glauben«, jubelte sie und fiel Emma freudestrahlend um den Hals.

Kurt Stoltz war ein kleiner, drahtiger Australier mit aufmerksamen dunklen Augen, denen nichts zu entgehen schien. In seiner Jugend musste er ein gut aussehender Mann gewesen sein, doch inzwischen hatte die jahrelange schwere Arbeit ihren Tribut gefordert. Nachdem Jo aus dem von einem Chauffeur gesteuerten Wagen gestiegen war, begrüßte er sie herzlich, zündete sich eine Zigarette an, hielt wegen des Windes die Hand schützend vor die Flamme und begann sofort zu erzählen, während er die Besucherin durch die blitzblanken Ställe von Stockenham führte.

Jo fühlte sich sofort wie zu Hause und musste daran denken, wie wenig Emmas Beschreibung »dämliche alte Ställe« zutraf. Den Gebäuden war deutlich anzumerken, dass viel Geld investiert worden war. An frisch gestrichenen Stalltüren prangten Namensschilder aus Messing. Leder und Metall in der Sattelkammer waren ordentlich poliert, und nirgendwo lag auch nur ein Strohhalm herum.

»Wir achten sehr auf Sauberkeit«, meinte Kurt und nickte ein paar Stallarbeitern zu, die den wenigen am gestrigen Tag gefallenen Schnee zusammenfegten. Dann zog er an seiner Zigarette und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus.

»Wissen Sie, ich habe zur gleichen Zeit angefangen wie Ihr Vater. Wir waren vor vielen Jahren für eine Weile sogar Partner«, fuhr er fort, während er Jo einen der wertvollen Vollblüter zeigte. Jo sog den vertrauten warmen Pferdegeruch ein und lauschte gebannt Kurt Stoltz’ Erzählungen. »Ja, Ihr Dad und ich haben mit vier alten Kleppern angefangen. Zwei hatte Ihr Vater geschenkt bekommen, und die ganze Stadt lachte darüber. Meine zwei hatten mich meinen letzten Cent gekostet. Nachdem wir sie sechs Monate aufgepäppelt hatten, haben wie sie für Provinzrennen gemeldet, und dreimal dürfen Sie raten, wer gewonnen hat – die alten Mähren Ihres Vaters. Keine Ahnung, wie er das geschafft hat, aber er hat aus den abgemagerten Kleppern zwei anständige Pferde gemacht, die in den meisten Rennen platziert worden sind.«

»Das hat Dad nie erwähnt«, meinte Jo und beobachtete mit stolzem Blick ein Pferd, das sich in einer Sandkuhle wälzte.

»Er war nie ein Mensch, der sich mit seinen Erfolgen brüstet«, erwiderte Kurt mit einem schiefen Grinsen. »Damals waren wir erst achtzehn, hatten hochfliegende Träume und kamen uns vor wie die Größten. Ich bin sogar einmal mit Ihrer Mum ausgegangen, bevor es zwischen ihr und Ihrem Dad was Ernstes wurde.«

Jo konnte den Ausdruck nicht deuten, der kurz über sein Gesicht huschte.

Kurt trat die Zigarette aus und warf die Kippe in einen Sandeimer. Schon nahm er die nächste aus der Tasche.

»Ja, die gute alte Zeit«, seufzte er. »Das Leben ändert sich, man zieht weiter, und nun bin ich hier und habe Besuch von der Tochter meines alten Kumpels, die ein Fotomodel ist.«

Er steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen, allerdings ohne sie anzuzünden.

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen ein paar unserer Jährlinge. Wie ich gehört habe, haben Sie sich gut mit Mr Compton unterhalten.«

Jo nickte lächelnd. So entspannt fühlte sie sich inmitten der vertrauten Gerüche und Geräusche, dass sie sich nicht verschloss, als Kurt sich nach ihrer Modelkarriere erkundigte. Stattdessen gab sie ein paar lustige Anekdoten aus Europa zum Besten und gestand schließlich, dass sie sich insgeheim danach sehnte, wieder mit Pferden zu arbeiten. Als sie über die Kingsford Lodge und ihre Familie sprach, wurde sie von heftigem Heimweh ergriffen. Schließlich war es Zeit zum Abschied, und da Jo kein Vorwand für einen erneuten Besuch einfiel, nahm sie all ihren Mut zusammen.

»Kann ich morgen wiederkommen?«, fragte sie, ein wenig atemlos. »Wenn ich darf, helfe ich auch beim Ausmisten oder als Mädchen für alles …«

»Natürlich können Sie. Besuchen Sie uns, so oft Sie wollen. Ich habe nichts dagegen, dass ein hübsches Mädchen ein bisschen frischen Wind in die Bude bringt«, erwiderte er.

Jo nahm Kurt beim Wort und lieh sich Onkel Charlies altes Auto aus. Am nächsten Morgen machte sie sich schon vor Tagesanbruch auf die einstündige Fahrt und traf rechtzeitig in Stockenham Park ein, um bei der Versorgung der von der Bahnarbeit zurückkehrenden Pferde zu helfen.

In der nächsten Woche schaffte sie es noch zweimal, den Ställen einen Besuch abzustatten. Es machte ihr Spaß, die Boxen auszumisten, Sattelzeug zu pflegen und andere Aufgaben zu erledigen. Dabei überlegte sie die ganze Zeit, wie sich die Rückkehr nach Paris wohl hinauszögern ließe. Kurt begegnete sie zwar nicht häufig, doch hin und wieder ertappte sie ihn dabei, wie er sie im Vorbeigehen ansah, wenn sie gerade ein Pferd in die Box führte oder es nach dem Wälzen in der großen runden Sandkuhle striegelte.

Die tief stehende Wintersonne war bereits hinter den Bäumen untergegangen, und die Pfützen froren zu, als Jo sich am Ende ihres dritten Besuchstages widerstrebend von den Pferden losriss und sich auf die Suche nach Kurt machte. Sie wollte sich dafür bedanken, dass er sie in den Ställen arbeiten ließ. Sie traf ihn in seinem Büro an, wo er gerade einige Papiere durchsah.

»Ich habe Sie beobachtet. Sie sind fleißig und tüchtig und lieben offenbar Pferde«, meinte er nachdenklich auf dem Weg zu ihrem Auto. »Eine junge, engagierte Mitarbeiterin wie Sie könnten wir gut gebrauchen. Eines unserer Mädchen hat vor zwei Wochen gekündigt, und ich suche seit einiger Zeit nach einer zuverlässigen Nachfolgerin. Sie hätten nicht zufällig Lust, das Modellstehen aufzugeben und stattdessen zu uns nach Stockenham Park zu kommen? Die Bezahlung ist zwar, offen gestanden, nicht so gut wie für das Hin- und Herstolzieren auf dem Laufsteg, aber wenn ich Sie mir so ansehe, bin ich sicher, dass Sie hier glücklicher wären.«

Er lachte. Jo errötete und wollte die Autotür aufschließen. Im nächsten Moment wirbelte sie herum.

»Habe ich Sie richtig verstanden? Haben Sie mir gerade einen Job angeboten?«, erkundigte sie sich unsicher.

Kurt nickte.

»Sie würden als Hilfspferdepflegerin anfangen, doch bei Ihrer Erfahrung würden Sie bestimmt bald aufsteigen«, brummte er. Wieder blickten sie seine Augen seltsam an.

Jo schluckte.

»Kann ich es mir bis morgen Früh überlegen?«, fragte sie zögernd.

»Kein Problem. Es war schön, Sie kennenzulernen. Richten Sie Ihrem Dad Grüße von mir aus«, entgegnete Kurt aalglatt, doch die Muskeln seines Kiefers zuckten kaum merklich.

»Du hast doch schon den ganzen Abend etwas auf dem Herzen. Willst du mir dein Geheimnis nicht endlich verraten?«, drängte Emma, als sie, in dicke Daunendecken gekuschelt, auf ihrem Bett saßen. Durch das kleine Fenster strömte Mondlicht herein.

»Ich gehe nicht nach Paris zurück. Man hat mir eine Stelle in Stockenham Park angeboten, und ich werde sie annehmen«, verkündete Jo, und die violetten Augen leuchteten aus ihrem ovalen Gesicht. – »Was?« Emma war entsetzt.

»Den ganzen Abend denke ich darüber nach. Mein Magen war so zusammengekrampft, dass ich das Abendessen kaum hinuntergebracht habe. Aber nun habe ich mich entschieden«, sagte Jo im Brustton der Überzeugung. »Ich rufe ihn gleich morgen Früh an. Hoffentlich habe ich es nicht vermasselt, weil ich nicht sofort zugegriffen habe.«

»Das meinst du doch nicht ernst, oder? Sag, dass es nicht stimmt«, rief Emma. »Du bist als Model unglaublich erfolgreich. Und jetzt willst du lieber Pferdemist schippen?«

»Wir haben dieses Gespräch schon einmal geführt, Emma, und damals hattest du recht. Aber ich kann nicht mehr so weitermachen«, antwortete Jo. »In einer guten Woche werde ich achtzehn. Während ich in Stockenham Park war, habe ich ständig darüber nachgedacht, wann sich mein Leben endlich in die richtige Richtung entwickeln wird. Dann hat Kurt mir einen Job angeboten, und plötzlich kannte ich die Antwort: jetzt. Die Gelegenheit, in einem so berühmten Rennstall zu arbeiten, ergibt sich kein zweites Mal. Und ich glaube, Kurt würde sich sehr freuen, wenn ich zusage.«

Sie sah ihre Freundin mit strahlenden Augen an.

»Du hast dir solche Mühe gegeben, mich zu ermutigen, damit ich meine Modelkarriere nicht an den Nagel hänge. Aber eigentlich warst immer nur du es, die wirklich Spaß an diesem Beruf hatte. Ich habe einfach Dienst nach Vorschrift gemacht.« Sie wickelte sich eine blonde Haarsträhne um den Finger. »Ich weiß, dass meine Entscheidung richtig ist, und es würde mich auch nicht stören, wenn ich die nächsten fünf Jahre Ställe ausmisten müsste.«

»Offen gestanden wundert mich das nicht sehr«, gab Emma zu. Sie holte tief Luft und ließ die Finger über die Daunendecke gleiten. »Aber wie willst du das deinen Eltern beibringen? Diesen plötzlichen Richtungswechsel werden sie doch sicher nicht gutheißen. Was ist mit deinen Engagements fürs neue Jahr? Und mit dem Geld? Was soll ich Jenny sagen, wenn ich ohne dich zurückkomme?«

Jo beugte sich vor, und das Mondlicht fing sich silbrig in ihrem Haar.

»Bis auf die Frage, wie ich es Dad begreiflich machen soll, habe ich mir alles genau überlegt. Das wird vermutlich schwierig«, erwiderte Jo rasch. »Wegen Jenny habe ich ein leicht schlechtes Gewissen, aber andererseits hat sie selbst gemeint, ich könnte höchstens einen Nischenmarkt erobern und mich nicht lang halten. Bestimmt hat sie Verständnis für meine Entscheidung. Ich rufe sie gleich morgen an. Außerdem habe ich zwanzigtausend Dollar auf der hohen Kante, sodass ich nicht so schnell verhungern werde. Und wenn ich Mum am Sonntagabend anrufe, werde ich ihr einfach erzählen, ich hätte beschlossen, noch ein wenig länger zu bleiben und Freunde zu besuchen. Das verschafft mir ein bisschen Luft.«

Sie hielt inne.

»Könntest du Jenny ausrichten, dass ich bis Ende Januar bleibe? Bis dahin ist mir sicher eingefallen, wie ich es Mum und Dad beibringen kann.« Sie verzog das Gesicht.

»Das alles hat nichts mit Simon zu tun, oder?«, erkundigte sich Emma und musterte Jo forschend.

Jo schüttelte heftig den Kopf, und ihre Augen sprühten Funken. »So dämlich bin ich nicht, Emma.«

»Da bin ich aber erleichtert. Denn du hättest nicht die geringste Chance. Unsere reizende Lelia hat ihn nämlich fest am Haken.« Sie wackelte unter der Bettdecke mit den Zehen. »Wie fangen wir es also an? Ich erzähle Jenny, du hättest beschlossen, deinen Geburtstag in England zu feiern und noch ein paar Wochen zu bleiben. Das gibt uns Zeit bis Anfang Februar. Und was wird dann? Wie erklären wir es Tante Sarah und Onkel Charlie?«

Jos Augen wirkten im Mondlicht wie große dunkle Seen. Sie schmiegte sich fester in die Decke und erläuterte ihren Plan. Emma und sie verließen das »Krähennest« gemeinsam. Auf dem nächsten Bahnhof würde Jo umsteigen und nach Stockenham Park fahren, während Emma nach London und von dort aus nach Paris weiterreiste. Jenny trat am Tag nach der Ankunft der beiden Mädchen eine zweimonatige Europareise an. So würde sie gar keine Zeit haben, sich eingehender nach Jos Plänen zu erkundigen. Und Emma selbst flog in der darauffolgenden Woche nach New York.

»Wann schenkst du allen reinen Wein ein?«, fragte Emma.

»Das weiß ich noch nicht«, erwiderte Jo ohne zu zögern. »Aber wenn ich etwas aus meinem Leben machen will, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich dem Problem zu stellen.«

Nachdem dieser Satz endlich ausgesprochen war, fühlte sich Jo wie von einer Zentnerlast befreit und sah ihre Freundin fröhlich an.

»Wenn das wirklich dein Herzenswunsch ist, helfe ich dir«, meinte Emma gähnend.

Beim Anblick von Jos strahlender Miene wurde ihr klar, dass sie ihre Freundin mehr vermissen würde als umgekehrt. Noch nie hatte sie bei Jo eine solche Zuversicht erlebt.

Am nächsten Morgen umarmten sie Tante Sarah zum Abschied, versprachen, mit dem nächsten Besuch nicht so lange zu warten, und stiegen in den Zug nach London. An der nächsten Haltestelle sprang Jo auf den eiskalten Bahnsteig, sie war aufgeregt und froh, dass sie nur einen Koffer bei sich hatte.

»Wehe, wenn du nicht schreibst«, stieß Emma mit tränenerstickter Stimme hervor und umarmte Jo ein letztes Mal. Der Schaffner stieß einen Pfiff aus, und dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung.

»Ich werde in den Zeitschriften alles über dich lesen«, rief Jo und lief neben dem Zug her. Tränen standen ihr in den Augen.

Nachdem der letzte Waggon im Nebel verschwunden war, putzte sie sich die Nase, griff nach ihrem Koffer und überquerte hastig den Bahnsteig, um den Zug nicht zu versäumen, der sie nach Stockenham Park und in ihr neues Leben bringen sollte.